- Work in progress

Es bröckelt im Treppenhaus, aber die Haus­gemein­schaft hält zusammen. In der Luisenstraße 132 leben viele verschiedene Generationen unter einem Dach. Die jüngste Bewohnerin ist gerade mal drei Monate jung.

„Seid ihr unterwegs?“ Es ist 15.08 Uhr und damit schon ein paar Minuten nach der vereinbarten Zeit, als diese Nachricht von Anke Kalbfuß auf dem Display des iPhones erscheint. Ja, wir sind jetzt da. Ankes Ungeduld ist nachvollziehbar. Schließlich hat sie die letzte Woche damit verbracht, die Bewohner:innen des Hauses mit der Nummer 132 an diesem Tag zusammenzutrommeln. Die Idee: Wir interviewen ein ganzes Haus im Viertel. Gute Idee, schwierige Umsetzung. Denn die Alltage der Menschen in diesem Haus könnten nicht unterschiedlicher sein. Umso spannender für uns. Das ganze Luisenviertel lebt davon, viele verschiedene Lebensrealitäten in einem Mikrokosmos zu vereinen. Unser „Modellhaus“ in der Luisenstraße bildet dieses Prinzip im Kleinen ab, erklärt aber auch die Schwierigkeiten bei der Terminfindung. Und die Nachricht von Anke.

Wir sprinten in die zweite Etage und werden trotz Verspätung herzlich begrüßt. Im Treppenhaus, hellgrau lackierte Holzstufen und Geländer, fällt ein beeindruckender Riss im Putz auf, der sich über mehrere Etagen zieht. An einigen Stellen hat jemand Pflaster über die „Wunde“ geklebt. Daneben ein Zettel mit der Aufschrift „Is this already art or waste?“ Die Installation scheint noch „work in progress“ zu sein. Aber dazu später mehr. Unser Interview-Marathon wurde zeitlich eng getaktet, weil einige Hausbewohner:innen eigene Pläne haben. Verständlich. Anke übergibt uns ein rosafarbenes Post-it, auf dem sie die Reihenfolge der Wohnungsbesuche für uns notiert hat. Es geht direkt weiter.

Dritte Etage, Hinterhaus. Ein junger Mann namens Edd öffnet die Tür. „Hey, come on in“, sagt der sympathische Engländer. Wir wissen, er hat nur wenig Zeit für uns. In ungefähr einer halben Stunde muss der 29-Jährige zum Training. Allerdings nicht ins Gym, sondern auf die Bühne der Pina-Bausch-Compagnie. Edd Arnold ist Tänzer in der weltweit bekannten Tanztheater-Gruppe – ein Traum, der für ihn nun in Erfüllung gegangen ist. Dafür hat der Brite seine Heimat London verlassen und ist nach Wuppertal gezogen. Mitten ins Luisenviertel. „Ich war 2017 das erste Mal hier und kenne die Stadt schon ein bisschen“, sagt Edd. Wie ist das so, wenn man aus einer pulsierenden Megametropole wie London ins vergleichbar beschauliche Luisenviertel zieht? „Das Fahrradfahren ist viel entspannter und die Wege kürzer. In London habe ich eine Stunde für den Weg zur Arbeit gebraucht.“ Wuppertal als Fahrradstadt? Für ihn scheint es tatsächlich so zu sein.

Edd bietet uns einen Kaffee an, es wird nicht das letzte Angebot dieser Art sein, das wir heute aus Zeitgründen ablehnen müssen. Wie viel Quadratmeter seine Wohnung hat, das wisse er nicht. Uninteressant – und in seiner Heimat UK keine übliche Angabe. „Meist wird nur die Anzahl der Schlafzimmer genannt, danach kann man sich dann orientieren“, sagt Edd. Groß ist seine Wohnung jedenfalls nicht, aber sehr geschmackvoll eingerichtet und auffallend ordentlich. Luisenviertelstyle, könnte man sagen. An der Wand in der Küche hängt eine gerahmte Nominierung vom Critics‘ Circle des National Dance Awards. Verblüffend ist allerdings, dass es sich um eine Nominierung für seinen Kurzfilm handelt. Edd ist zwar hauptberuflich Tänzer, aber auch in anderen Bereichen aktiv. „Ich bin einfach gerne kreativ. Auf diese Nominierung bin ich besonders stolz, weil es sich um den wichtigsten nationalen Award handelt“, erklärt er.

Bei seiner Ankunft im November 2024 wurde der Brite mit echtem Wuppertalwetter empfangen. Soll heißen: ergiebiger Regen. Aber es gab auch Positives für den Neuankömmling: „Wir kamen hier erst abends gegen elf Uhr an. Zum Glück hat uns Anke mit einer heißen Suppe empfangen. Das war die Rettung.“ Inzwischen hat der Pina-Bausch-Tänzer sich eingelebt. Hat sich an die Eigenarten der neuen Heimat gewöhnt. So zum Beispiel an die Tatsache, dass die Geschäfte sonntags geschlossen sind. „Man muss schon etwas im Voraus planen“, sagt Edd. Allzu viel Zeit bleibt dem Tänzer ohnehin nicht, um seine Bleibe so richtig zu genießen. Durch seine Arbeit in der Compagnie stehen regelmäßig mehrwöchige Aufenthalte in Dänemark, Wien oder eben London auf dem Plan. Die Zeit, die ihm bleibt, verbringt er gerne in der Sauna der Schwimmoper. „Ein toller Ort“, findet Edd.

Wir müssen weiter. Ankes Post-it-Liste schickt uns ins Erdgeschoss zu Hanna und Ralf Kahl. Die beiden sind ebenfalls recht neu in Wuppertal, spielen allerdings in einer anderen Liga, was das Alter angeht. Das Ehepaar kommt zusammen auf 140 Jahre. Beide zu gleichen Teilen. „Wir wussten gar nicht, was das Luisenviertel ist“, sagt Hanna Kahl. Die beiden kommen aus dem Münsterland und lebten in einem klassischen Einfamilienhaus. Nach und nach ist die Familie, insgesamt drei Kinder, dann ausgezogen. Alle in andere Städte. Aus dem Einfamilienhaus ein einsames Haus. Die beiden wollten in die Nähe der Kinder und Enkelkinder ziehen. Nach einigem Hin und Her habe man sich dann für die Wohnung in Wuppertal entschieden. Vermittelt wurde sie über den Schwiegersohn, der wiederum den Vermieter kennt. Der Einzug im Dezember 2023 ging dann ganz schnell. „Wir mussten die Wohnung in 14 Tagen renovieren, weil unser Haus schon verkauft war“, sagt Ralf Kahl. Jetzt ist man froh, in der neuen Heimat angekommen zu sein.

Obwohl das Leben im Münsterland sich in vielen Aspekten von dem im Luisenviertel unterscheidet, gibt es auch Vergleichbares. Zum Beispiel das Gemeinschaftsgefühl: „In unserer alten Heimat gab es sogenannte Nachbarschaften, in die man offiziell aufgenommen wird. Man macht Ausflüge zusammen, Grillabende und so was. Aber alles sehr reguliert mit genauen Richtlinien – und viel Sozialkontrolle.“ Hier gebe es auch diesen Zusammenhalt, nur eben auf einer ganz anderen Ebene. „Ich finde, wir haben eine schöne Hausgemeinschaft“, sagt Hanna. Ralf ergänzt: „Es ist ein offenes Miteinander von mehreren Generationen. Das ist sehr erfrischend.“ Man hat den Eindruck, die beiden sind wirklich angekommen im Tal und im Viertel. Auch die Wohnungseinrichtung des Ehepaares erinnert nicht zwingend an ein Einfamilienhaus im Münsterland. Ein Stück weit ist das sicherlich auch der Wohnung an sich geschuldet, die genau so ist, wie man sich eine klassische Altbauwohnung vorstellt: Holzdielenboden, irre hohe Decken mit Stuckverzierungen, riesige Fenster und eine etwas eigenwillige Raumaufteilung. Die Durchgänge im Bereich Flur, Küche und Wohnzimmer seien in der Vergangenheit offensichtlich mehrfach umgestaltet worden, sagt Hanna.

Fest steht, dass dieses Haus in der Luisenstraße schon viele Bewohner:innen kommen und gehen gesehen hat. Ralf erinnert sich an mehrere Begegnungen mit Menschen, die selbst einmal in der Wohnung der beiden gelebt haben. „Einer hat mich mal angesprochen, ob es die Küche immer noch gibt.“

Der nächste Name auf unserer Liste ist Familie Näsemann. Vom Parterre geht es ganz nach oben ins Dachgeschoss, vorbei an dem markanten Riss in der Wand. Ob das Haus vielleicht doch einsturzgefährdet ist? Für diese Gedanken ist jetzt keine Zeit, schließlich haben wir einen straffen Zeitplan. Wir klopfen und werden von einem jungen Familienvater, blonde Haare, leichter Strubbel-Look, empfangen. Ob wir die Schuhe ausziehen können? Natürlich. Doch die heimelige Ankunft auf Socken hat einen Haken: Ich habe meinen Rucksack im Erdgeschoss liegen lassen. Also nochmal Schuhe an, die Treppen runter, klingeln, Entschuldigung, danke und wieder hoch. Es kann losgehen.

Das angebotene Getränk nehme ich jetzt dankend an. Schon ist der Rest der Familie im riesigen Wohnzimmer mit offenem Küchenbereich eingetroffen. Robin und Laura, beide Ende 30, sind vor drei Monaten zum zweiten Mal Eltern geworden. Die kleine Cleo ist heute etwas verschnupft, aber für ihr Alter insgesamt entspannt und auch ein bisschen neugierig. Ihr großer Bruder, der dreijährige Toni, beäugt den ungewohnten Besuch mit einer gesunden Portion Skepsis. „Wir sind vor vier Jahren eingezogen“, sagt Familienvater Robin. „Aber wir leben schon ewig im Viertel.“ Die Chance zum Umzug in die größere Wohnung in der Nachbarschaft sei ein glücklicher Zufall und ein Fall von „Man kennt sich“ gewesen. Als nächstes will die Familie den Dachboden ausbauen, die Freigabe vom Denkmalamt sei vor etwa drei Wochen endlich eingetrudelt. „Die Wohnung ist zwar groß, aber es fehlen Zimmer.“ Vor allem jetzt, nach der Geburt der kleinen Cleo. Das aktuelle Elternschlafzimmer soll nach dem Umbau unter das Dach verlegt werden. Dadurch entsteht neuer Raum für die Kinder. Robin meint, dadurch „das Chaos im Wohnbereich wieder in den Griff zu bekommen.“ Besonders chaotisch wirkt der Wohnraum auf uns zwar nicht, aber da ist man selbst ja immer kritischer.

Als alte Hasen im Luisenviertel wissen Robin und Laura genau, was sie hier gehalten hat. Die Gastronomie, der benachbarte Deweerth’sche Garten, die kurzen Wege, die Gemeinschaft. „Die vielen neuen Cafés sind eine Bereicherung und es gibt sehr leckere Pizza im 79sec.“ Laura, die sich während unseres Gesprächs die meiste Zeit um Sohn Toni kümmern muss, schwärmt von dem Angebot des Creme-Eis in der Osterfelder Straße. „Wir sind fast jeden Tag da.“ Nur die Parksituation sei – gewöhnungsbedürftig. „Dafür kann man locker mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Das ist schon sehr entspannt“, sagt Robin. Und dann ist da ja noch das alljährliche Luisenfest. Familie Näsemann lässt sich dieses Event nicht entgehen. „Das nehmen wir immer mit“, sagt Robin. Einen eigenen Stand habe man allerdings nicht. Den stellt traditionell Anke Kalbfuß direkt vor dem Haus auf. Apropos Anke. Unsere Organisatorin ist die nächste auf der Liste. Also wieder runter in die zweite Etage. Diesmal mit Rucksack.

Anke ist nicht nur ein Organisationstalent – und deshalb federführend im hauseigenen WhatsApp-Gruppenchat –, sondern lebt von allen Gesprächspartner:innen am längsten im Haus. Außerdem ist sie die „Landlady“, also Vermieterin, von Edd. Die Fülle an Leinwänden, Farben und gerahmten Bildern legt nahe, dass man es hier mit einem Atelier zu tun hat. Und richtig, Anke ist seit vielen Jahren künstlerisch aktiv. Heute mehr denn je. Da kommt uns der Riss im Hausflur wieder ins Gedächtnis (Is this already art?) Anke Kalbfuß gibt sich als Urheberin der Kunstinstallation zu erkennen und gibt direkt Entwarnung: „Der Schaden wurde von einem Statiker und Architekten gecheckt, keine Gefahr für das Gebäude. Alles nur oberflächlich“, so Anke. Man vermute, dass der neue Riss durch die Tiefbauarbeiten im Viertel entstanden ist. Die Künstlerin plant, den Riss mit einer In-house-Kunstaktion weiter zu verschönern. So sollen die Bewohner:innen von ihr vorbereitete Pappleinwände in Eigenregie gestalten. Diese werden dann entlang des Risses verteilt. „Ich will das demnächst mal angehen“, so Anke Kalbfuß. Ein weiteres Vorhaben ist es, den Innenhof wohnlicher zu gestalten, sodass dieser für gemeinsame Aktivitäten genutzt werden kann.

„Ich bin seit 1992 hier im Haus“, erzählt Anke. Zahlreiche Nachbar:innen hat sie kommen und gehen sehen. Darunter auch einige Wuppertaler Prominenz. Pina-Bausch-Tänzer Edd ist zum Beispiel nicht der erste seiner Art, der sich im Hinterhaus eingerichtet hat. Im Laufe der Achtziger und frühen Neunziger Jahre lebten hier unter anderem Anne Martin (aus Frankreich), Melanie Lien (aus Neuseeland) und Urs Kaufmann (aus der Schweiz). Auch Ulli Weiss, die viele Jahre die Compagnie als Fotografin begleitet hat, wohnte hier, genau wie Stefan Klein, Gründer des stadtbekannten Umzugsunternehmens, oder Milan Kadlec, der den Verein „Behindert – na und?“ ins Leben rief. Die daraus erwachsene Hilfsorganisation nahm im Innenhof des Hauses ihren Anfang, nachdem der ehemalige Reifenhändler-Schuppen in einen Pavillon umgebaut worden war.

Aber genug von der Vergangenheit. Wir blicken lieber nach vorn, beziehungsweise nach hinten. Nora Schaaf bewohnt eine kleine Wohnung in der ersten Etage im Hinterhaus. Die Stimmung an der Wohnungstür ist ausgelassen, die Freude über unseren Besuch groß. Willow, circa 30 Zentimeter groß, wuscheliges Fell, ist die Hundedame des Hauses und begrüßt uns mit einem etwas zerfetzten Stofftier im Maul. Begleitet wird Willow, im Übrigen ein Malteser- Shi-Tzu-Mischling, von unserer Interviewpartnerin Nora. Die 22-Jährige ist für das Studium von Bornheim bei Köln nach Wuppertal gezogen. Das war im September 2023. „Köln war mir zu groß und zu teuer“, sagt sie. Nora studiert Sozialwissenschaft und Biologie – ausdrücklich nicht auf Lehramt.

In ihrer alten Heimat hat sie mit ihrer großen Familie zusammen in einem Hofverband gelebt. „Da war immer was los“, so Nora. Der Trubel, den sie nun täglich direkt vor der Haustür hat, kann die Studentin also nicht schocken. „Ich habe mich schnell eingelebt und fühle mich jetzt hier zu Hause. Wahrscheinlich etwas schneller als Willow“, sagt sie und lacht. An der problemlosen Eingewöhnung sei unter anderem die lockere Hausgemeinschaft beteiligt, aber auch das intime Flair des Viertels, das aus Noras Sicht auch einen gewissen „Dorfcharakter“ hat.

Nora verbringt vergleichsweise viel Zeit in ihrer Wohnung, lernt lieber am Küchentisch als in der Uni-Bibliothek. Sie absolviert auch einige Online-Seminare von zu Hause aus. Ihr gefällt vor allem der historischen Touch des Hauses: „Der Holzboden und dieses Unperfekte, das mag ich. Wenn ich in den Keller gehe, dann ist das so ein Keller, wie man ihn von früher kennt. Dieser Geruch – das ist auch ein bisschen Kindheitserinnerung.“

Wir verabschieden uns von Nora und machen einen letzten Abstecher in die Wohnung von Anke. Bei einem alkoholfreien Bio-Radler erzählt sie noch etwas über die Geschichte des Gebäudes. „Die Balkone gibt es erst seit 12 Jahren. Das war ein echter Kampf mit dem Denkmalamt“, berichtet sie. Im Dachgeschoss habe übrigens einmal der Künstler Oliver Sachse gewohnt. Und auch Ede Wolff, Mitgründer der Punkband Schließmuskel, die in den Achtzigern Erfolge feierte. Ganz sicher gibt es noch viele weitere Geschichten, die über dieses Haus in der Luisenstraße erzählt werden könnten. Und die heutigen Bewohnerinnen und Bewohner sind nun ein Teil dieser Geschichte. Das gesamte Haus ist und bleibt „Work in progress“. Und das ist gut so.

Text: Marc Freudenhammer

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